Le Colonie
Die Kinderferienlager des faschistischen Italiens

ARNE WINKELMANN

 
























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Dan Dubowitz



DIE COLONIE ALS POLITISCHES INSTRUMENT

Die ursprüngliche rein humanitäre Bedeutung der Kinderkolonien (im folgenden Colonie genannt), wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert etabliert wurde, lag in der medizinischen Hilfe und Vorsorge. Den Krankheiten und Mangelerscheinungen, die auf fehlendes Licht, schlechte Luft und ungenügende Ernährung zurückzuführen waren, wurde hier mit ausgiebigen Sonnenbaden, körperlicher Ertüchtigung und ausgewogenen Mahlzeiten begegnet. Die von kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen wie dem Opera Don Bosco oder dem Opera Bonomelli gesetzte Zielstellung der Colonie erfuhr jedoch während des Faschismus einen grundlegenden Wandel beziehungsweise einige Ergänzungen:


Zum einen erfolgte die Stärkung und Kräftigung der Jugendlichen nun im Sinne der Stärkung der italienischen Nation. Den faschistischen Machthabern ging es mit der physischen Besserung um die Stärkung des "Volkskörpers", also weniger um die Kraft und Gesundheit der Einzelnen, als vielmehr um die körperliche Überlegenheit einer neuen Generation. Die Jugendorganisation der Balilla (Opera Nazionale Balilla), die 1937 von der GIL (Giovventù Italiana del Littorio) abgelöst wurde, hatte einen klaren paramilitärischen Charakter. Die Jugendlichen trugen Uniformen zu denen auch ein Holzgewehr gehörte, waren in militärischen Hierarchien organisiert, führten Wehrsportübungen durch und bedienten eine reihe von militärischen Ritualen wie Fahnenappellen, Vereidigungen und Heldenverehrung. Die Colonie trugen dazu bei, die Balilla körperlich und moralisch zu Soldaten zu erziehen. Die faschistische Regierung verstaatlichte sämtliche privat und kirchlich betriebenen Colonie und sorgte dafür, dass hier keine andere Organisation Einfluss auf die Jugend ausüben konnte.

Balilla

Zum anderen wurden die Colonie zur ideologischen Indoktrination und emotionalen Bindung an das faschistische Regime instrumentalisiert. Hierbei wurden zwei Strategien verfolgt: Zum einen die verstandesmäßige Unterrichtung und Erziehung der Kinder unter anderem durch politische "Aufklärung" bei den täglichen Lehrstunden, und zum anderen durch das Aufbauen einer emotionalen Bindung, beispielsweise zur "Vaterfigur" des Duce. Vor allem der emotionale Affekt sorgte dafür, dass die Aufenthalte in den Ferienlagern sehr positiv aufgenommen und nachträglich als "wundervolle Welt" (Cities of Childhood, 1984, S. 10) verklärt wurden. Bezeichnend ist, dass in den 1920er Jahren auch Großindustrielle in den Colonie ein Potenzial sahen, die Kinder ihrer Angestellten und Arbeiter frühzeitig an Disziplin zu gewöhnen und an das Unternehmen zu binden. Große Industriebetriebe wie FIAT, Olivetti, Piaggio oder Montecatini errichteten und betrieben Colonie auch aus dem wirtschaftlichen Interesse, eine gesunde, effiziente und treue Belegschaft heranzuziehen. Als sehr späte Industrienation holte Italien damit das nach, was beispielsweise in Deutschland als paternalistische Unternehmenskultur schon in der Gründerzeit praktiziert wurde.

Propagandabild zum Aufenthalt in einer Colonia

Darüber hinaus wurde der Begriff "Colonia" zur Paraphrase des zu erweiternden "Lebensraums". Auch wenn der Begriff "Colonia marina" in den 1920er Jahren bereits lange geprägt war, so erhielt er durch den Faschismus eine zusätzliche Bedeutung. Als eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg stellt die Erschließung neuen Landes eines der wesentlichen Elemente der faschistischen Bewegung dar. Dies fand zum einen durch einen aggressive Expansionspolitik und der tatsächlichen Annexion von Kolonien außerhalb Italiens statt und zum anderen durch die Neugründung von Städten im Mutterland selbst, den Città fondazione. Die Erschließung der adriatischen und ligurischen Küste durch die Colonie stellte einen weiteren Baustein in der Gewinnung von "Lebensraum" in Italien dar. Das faschistische Regime schuf seiner Bevölkerung damit "neues Land" und expandierte quasi nach innen. Mit der Siedlung Calambrone beispielsweise wurde sogar eine ganze Stadt mit Kinderkolonien auf einem Küstenstreifen vor Livorno errichtet.

Calambrone - die Stadt der Colonie

Diese erweiterten Zielstellungen der Colonie führten zu Beginn der 1930er Jahre zu einem forcierten Bau neuer Ferienanlagen an den Küsten (colonie marine), in den Bergen (colonie montane) oder als Tageseinrichtungen auf dem Land oder in der Peripherie der Städte (colonie elioterapiche).  
Die meisten Colonie wurden im Stil des Razionalismo errichtet. Bei der allgemeinen architekturhistorischen Rezeption der Bauten des Razionalismo werden vor allem baulich-räumliche Qualitäten hervorgehoben und ideologische Implikationen eher selten thematisiert. Auch bei den Colonie werden Architekturstil und Nutzungspraxis überwiegend getrennt betrachtet und ihre gegenseitige Bedingtheit nicht untersucht. Durch die vorrangig ästhetische Bewertung der Bauten wird eine moralisch-ethische Einordnung vermieden. Die stilistische Nähe des Razionalismo, der Architektur eines totalitären Regimes, zum International Style, der als die Baukunst der freiheitlichen Demokratie gilt, wird dabei selten problematisiert. Inwiefern aber diese moderne und avantgardistische Architektur der Colonie integraler Bestandteil der politischen Indoktrination war, soll im Folgenden aufgezeigt werden.

Colonia marina "Principi di Piemonte", Santa Severa

Zunächst sei auf die strukturellen Analogien zwischen der Grundrissgliederung und der militärischen Hierarchie der Balilla verwiesen. Die Balilla waren in Einheiten organisiert, die dem historischen Vorbild der antiken römischen Armee folgten. Die kleinste Einheit ist der Trupp (squadra) mit 11 Kindern, drei Trupps bilden ein Manipel (manipolo), drei Manipel ergeben eine Zenturie (centuria) mit 100 Kindern, wiederum drei Zenturien bilden eine Kohorte (coorte) und das Dreifache einer Kohorte ergibt die größte Einheit mit 900 Personen, die Legion (legio). In den Colonie werden die Kinder nun meist in Schlafsälen von 11 bis 33 Betten untergebracht, also in der Belegung eines Trupps oder Manipels. Je Stockwerk oder Gebäudetrakt werden die Schlafsäle dann oft wieder in Dreiergruppen organisiert. Viele Colonie haben dann die Kapazität einer Kohorte und einige der größten Colonie die einer Legion wie die Colonia Bolognese in Rimini oder die Colonia "XXVIII Ottobre" in Cattolica. Insofern stellt die räumliche Organisation der Colonie mit Schlafsälen in der Größen der militärischen Einheiten schlicht die von Kasernen dar. Die bauliche Struktur entspricht der von Mannschaftsquartieren.

Grundriss Colonia marina "XXVIII Ottobre" dei Fasci di combattimento di Torino, Marina di Massa

Grundriss Colonia marina "XXVIII Ottobre", Cattolica

Ein weiterer Aspekt, der aus der Analogie zur Kaserne hervorgeht, ist der eines reibungslosen Ablaufs eines Massenbetriebs. Der Architekturhistoriker Michele Anderle hat von einer im Faschismus angestrebten "Maschinisierung des Menschen" gesprochen, bei der dem Einzelnen nur noch die Rolle einer anonymen Funktion innerhalb einer Maschine zukommt. Dieses Bild lässt sich auf die strukturelle Gliederung und formale Gestaltung der Colonie übertragen. Die Colonie waren funktional klar gegliedert: Die Dienstleistungsbereiche wie Küche, Wäscherei und Verwaltung waren klar von den Bereichen der Kinder getrennt, die Schlaftrakte der Mädchen und Jungen waren voneinander getrennt (insofern eine Colonia nicht gleich nur dem einen oder anderen Geschlecht vorbehalten war), sämtliche Lebensprozesse der Besucher wie Schlafen, Essen und Waschen wurden kollektiviert und zusammengelegt. Entsprechend einer schnellstmöglichen Versammlung oder Verteilung der Kinder wurden die Gebäude meist mit breiten Rampenanlagen erschlossen, die oft kreisförmig oder in Bögen ausformuliert waren wie bei den Colonie Montecatini oder Varese in Cervia. Die funktionale Ausdifferenzierung, klare Geometrien und teilweise panoptische Raumsituationen zur besseren Überwachung begünstigten den reibungslosen Betrieb der Ferienanlagen. Unter dem Schlagwort der Mechanisierung und Maschinisierung ist auch die motorenähliche Gestaltung wie bei der Colonie "Roberto Farinacci" in Cremona oder der Colonia "Maria Pia di Savoia" in Vercelli zu verstehen.


Colonia elioterapica "Roberto Farinacci", Cremona © Arne Winkelmann


Colonia elioterapica "Maria Pia di Savoia", Vercelli © Dan Dubowitz

Der Aspekt des Technischen spielt vor allem bei der symbolischen Funktion der Architektur eine Rolle. Bei den Colonie wie "XXVIII Ottobre" in Cattolica, "Amos Maramotti" und Novarese in Rimini ist das Motiv eindeutig: Die Großformen der Gebäude evozieren klar Schiffsrümpfe, halbrunde Treppenhäuser wirken wie Buge, Geländer und Rampen erinnern an Relings und Gangways. Bullaugen und Fahnenmaste unterstreichen die nautische Motivik. Die Schiffsmetapher ist eine der zentralen Topoi in der Architektur der Moderne. Sie stand für den Aufbruch in eine neue Zeit, für eine Sozialutopie sowie Technikeuphorie und Fortschrittsglauben. Das Bild des Passagierschiffes liegt bei einer Erholungsarchitektur am Meer auch nahe, doch bei den Colonie wird nicht nur das Motiv des Ozeandampfers konnotiert, sondern auch, und das mag die erste Bedeutung sogar noch überlagern, das Motiv des Kriegsschiffes. Bei der Colonie "XXVIII Ottobre" scheint eine kleine Flotte um einen Zentralbau, der auf einer zeitgenössischen Postkarte als "nave ammiraglia" (Flaggschiff) bezeichnet wird, vor Anker zu liegen. Aufgrund ihrer gedrungenen Form wirken die vier Schlaftrakte wie Schnell- oder Torpedoboote der Marine und nicht wie Dampfer der zivilen Schifffahrt. Auch der Treppenturm der Colonia Novarese wirkt wie ein Geschützturm oder eine Kommandobrücke, die über dem Deck in die Höhe ragen. Zusammen mit der Balilla in Marineuniform vervollständigt sich das Bild der Generation, die auf den Krieg, den Seekrieg vorbereitet werden soll.

Colonia marina "XXVIII Ottobre", Cattolica

zeitgenössische Postkarte Colonia marina "XXVIII Ottobre", Cattolica

Colonia marina Novarese, Rimini

 

Die Architektur der Colonie diente auch als Rahmung für die politische Emblematik. Der Präsentation faschistischer Symbole, Hoheitszeichen und Propagandaformeln wurden bei den baulichen Ensembles viel Platz eingeräumt. Die Appellplätze wurden meistens so ausformuliert, dass die Balilla-Reihen auf eine Rednerkanzel oder -balkon blickten, der meist Teil einer größeren geschlossenen Wandfläche war. Diese Wandflächen an prominenter Position trugen Schriftzüge, die den jeweiligen Namen der Colonie und das Jahr ihres Baus in faschistischer Zeitrechnung, bestehend aus einer römischen Zahl und dem Zusatz E.F. für Era Fascista (Bsp. XII E.F. = 1934) beinhalten sowie drei Fasces zeigten, die römischen Liktorenbündel, die von 1926 an das Hoheitszeichen Italiens darstellten. Die bauliche Komposition vieler Colonie kulminierte in diesen Baukörpern oder Wandflächen der propagandistischen Inszenierung. Das Motiv des Liktorenbündels findet sich auch in vielfachen Varianten wieder: Als eigener Baukörper, wie runden Treppenhäusern oder kannelierten Türmen ausformuliert oder als Grundrissfigur wie bei der Colonia "Rosa Maltoni Mussolini" in Tirrenia. Als applizierte Hoheitszeichen bei den Rednerkanzeln und an den Eingängen waren die drei Liktorenbündel am häufigsten anzutreffen. Die Architektur diente also dazu, die politischen Symbole und Embleme allgegenwärtig zu halten und den jungen Besuchern ständig vor Augen zu halten, wem sie ihren Aufenthalt zu verdanken haben, beziehungsweise wessen Gefolgsleute sie waren.


Colonia montana "Montemaggio", Savignone



Colonia marina "Rosa Maltoni Mussolini", Tirrenia

 

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass auch in die Formensprache der modernen Architektur suggestive und manipulative Momente eingeschrieben werden können. Die vermeintlich universale und symbolfreie Baukunst der Moderne konnte im Rahmen einer totalitären Einflussnahme durchaus dienstbar gemacht werden und helfen, eine ganze Generation auf Regimetreue und Gewaltverherrlichung einzuschwören. Die Architektur des Razionalismo auf räumliche und ästhetische Qualitäten zu reduzieren bedeutet, sie zu entpolitisieren. Es bedarf hier einer differenzierten und kritischen Betrachtung, die auch politische und soziokulturelle Aspekte mit berücksichtigt.

Ein Manipel Balilla in Kadettenuniformen

 

Bei dieser Webseite handelt es sich um eine typologische Untersuchung der Architektur der Kinderferienlager des faschistischen Italiens. Sie dient weder der Verherrlichung und Glorifizierung noch der Verharmlosung und Verklärung des faschistischen Regimes und seiner Ideologie, sondern als Quelle für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex.

 
 
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